Ein Tag im Leben des Brian
- Georg

- 3. Nov. 2019
- 15 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Nov.
Ein Tag im Leben des Brian
Samstagfrüh, halb zwölf, viel zu früh und unerwartet öffnet sich ein linkes Auge. Von der tiefstehenden Herbstsonne, die in das Zimmer der elterlichen Wohnung fällt geblendet, ist Brian froh, dass er auf dem rechten noch immer ruht. Genervt von der Sonne und einem heftigen Bauchgefühl in der Blasengegend, quält er sich in die Vertikale und lernt auf dem Gang zur Toilette wieder laufen.
Als er sich im sitzenden Zustand erleichtert und sich der schmerzhafte Druck der Blase langsam in wohltuende Gelassenheit verwandelt, verschieben sich die körperlichen Funktionen aus der Leistengegend weiter bis nach ganz oben. Kurz unter der Schädeldecke spring holprig aber für heute unumkehrbar der Prozess an, welchen man allgemein als denken bezeichnet. Nach dem Spülen beim Händewaschen, schaut er sich im Spiegel an und sagt sich erst mal einen „Guten Morgen Brian“! So ganz wach ist er noch nicht, aber als er sich die Hände abtrocknet, spürt er jede Muskelfaser in seinem jugendlichem Körper. „ Hast es wohl gestern wiedermal übertrieben, im Studio!“ , sagt er zu sich. Warum lässt er sich von den anderen immer so anstacheln. Andererseits, von nichts wächst auch kein Oberschenkel oder Schulterpolster! Auf dem Gang zum Kühlschrank, wirft er durch die offenstehende Wohnzimmertür einen Blick auf das Chaos, welches offenbar von seinem Vater, der nicht im Blickfeld ist, angerichtet wurde. Ok, denkt er, das sollte ich mir mal erlauben!!! In der Küche angekommen, findet er den vermeintlichen Übeltäter mit Vollbart zwischen Kaffeemaschine und Kühlschrank hektisch hin und her flitzen. Woher hat er so früh am Morgen solche Energie? Die verbalen Morgengrüße der beiden, kreuzen die Küchenluft und überlagern sich zu einem nicht identifizierbarem Gemurmel. Jedem der Beteiligten wird schnell klar, dass jetzt nicht der beste Augenblick für tiefsinnige Gespräche zwischen Vater und Sohn ist. Da das auch keiner der beiden vorhatte, überlassen sie sich gegenseitig den wochenendlichen Geschehnissen! Brian versucht dem sehr übersichtlichen Inhalt der mannhohen Kühlkombination etwas essbares abzutrotzen. Er einigt sich mit sich selbst auf zwei Toastscheiben aus dem Tiefkühlfach, Butter von hinten links und dem fast vergessendem Glas Nugataufstrichs, welches aus gesundheitlichen Aspekten von langer, mütterlicher Hand vorbereitet, auf dem Kühlschrank aus dem Blickfeld eines von Heißhunger getriebenen Jugendlichen geräumt wurde. Im vorbeigehen drückt er erst eine Tasse unter den Auslass und dann die Taste für eine große PORTION auf der Kaffeemaschine. Beim hinsetzen quittiert Brian, das lärmende Mahlwerk und das dröhnende pumpen beim erhitzen des Wassers mit jugendlicher Ungeduld. Kurz darauf steht er wieder neben der lebensrettenden Maschine und dankt der Ingenieursleistung der italienischen Konstrukteure. Die dampfende Tasse wird nun mit fast schon liebevoller Hingabe und größtmöglicher Vorsicht die zweieinhalb Meter quer zum Sitzplatz buchsiert. Zum Leidwesen der zufällig auch auf Nahrungssuche befindlichen zweieinhalb Jahre älteren Schwester, wird geräuschvoll die Crema abgeschlürft! „Wenn du dich schon akustisch daneben benimmst, könntest du dich wenigsten optisch präsentabel bewegen!“, schmettert es für die Uhrzeit in viel zu hoher Stimmlage an sein Ohr. Nun ist er wach und ein normaler Geschwisterdialog nimmt seinen unvermeidlichen Lauf.
„ Hallo, was möchtest du mir sagen? Das T-Shirt hat keine Flecken und meine Haare stehen nicht, wie übrigens deine, in alle Himmelsrichtungen ab! „ so Brians Beitrag. Die weibliche Antwort lässt nicht lange auf sich warten „ Wenn ich schon einen Bengel in der gemeinschaftlichen Küche erdulden soll, möchte ich mir auch diesen aussuchen und der hätte dann auch nicht ein Schwammkopfshirt und solch ausgebeulte Unterhosen an!“ „Soll ich darauf etwa verzichten ?“fragt er und fängt gleichzeitig an, an der Unterhose zu ziehen. Die gespielte Geste des Erbrechens kommt als weibliche Antwort!
Spätestens jetzt bekommt der bärtige Claus der immer noch irgendetwas in der Altbauküche zu suchen vorgibt, einen für einen Erziehungsberechtigten viel zu roten Kopf und verlässt die Kampfarena mit vorgetäuschter Dringlichkeit.
Ok. denkt sich Brian, sie wollte es so! „ Der, den du in deinen Träumen erduldest, weiß erstens nicht von seinem zweifelhaften Glück und zweitens, würde er eventuell eine andere Wahl treffen!“ Im selben Moment kommt Katrin um die Ecke um sich ein Glas Wasser zu hohlen. Das verschafft Carla eine fast unfaire Verschnaufpause. Denn jetzt vor der Mutter, spielt die Brut, heile Familie! So viel zur Schau gestellter Eintracht, ringt Katrin einen stolzen Kommentar ab. „ Für ein Frühstück schon ein bisschen spät, aber immerhin gemeinsam!“ Brian und Carla können sich ein unaufrichtiges lachen nun nicht mehr verkneifen und mit dem lauthalsen Gelächter ist der Disput der Heranwachsenden über die Außenwirkung des jeweilig anderen auf unbestimmte Zeit verschoben.
So kommt Brian wenigsten ohne weitere Verzögerungen zu den erwarteten schokolierten Streicheleinheiten der Geschmacksknospen. Beim verlassen der Küche, sagt Katrin noch so etwas wie „ Claus, ich verstehe unsere eigenen Kinder nicht mehr aber egal, immerhin heulen sie nicht!“
Während Brian die Nutellabrote verschlungen hatte und die Kaffeetasse langsam und genussvoll geleert wurde wurde es still in der Küche. Nun setzte langsam aber unaufhaltsam die Wirkung des Bohnengebräus ein und verfehlt nicht seine Durschlagskraft. Im Magen grummelt es und ihn drängt es in Richtung Badezimmer. Carla hat genau in diesem Moment die Badezimmertür von innen verriegelt. „Oh nein“ entfährt es ihn, das dauert jetzt wohl ´ne Weile.“ Liebes Schwesterherz, bitte denke daran, dass du nicht allein in dieser Wohnung lebst!“ Carla traut auf dem Weg in die Dusche ihren Ohren nicht und schlussfolgert, dass es wohl sehr erst sein muss. „OK“, schallt es durch die immer noch verrammelte Tür an Brians Ohr,“ ich mach hinne!“. Wundernd und hoffend auf baldige Erlösung wackelt Brian von einem Bein auf das Andere trippelnd, in das Chaos-, eeehh, Wohnzimmer und versucht sich mit staunendem Entsetzen abzulenken. Vadder, was tust du hier? Claus, der grade gebeugt über einer ca. einem Meter Durchmesser großen bunten Leinwand kauert, hebt den Kopf und schaut in Richtung Tür mit einem Gesicht , als hätte man ihn grade beim Ladendiebstahl erwischt. „Ich, ach, gar nicht, oder doch, ich räume auf!“ Jetzt wird es für Brian immer bremslicher! Es bahnt sich mit einem beginnenden Lachkrampf eine Katastrophe, biblischen Ausmaßes an. Jeder der Claus kennt, weiß das Claus unbestreitbar seine Qualitäten hat, aber jeder weiß auch, dass das Aufräumen auf keinen Fall dazu gehört. Erst ist es nur ein schmunzeln, dann ziehen sich Brians Mundwinkel bis fast zu den Ohren, und als Claus dann noch mit verdutztem Ausdruck die Frage in den Raum wirft“ Habe ich etwas falsches gesagt?“ ist es für Brians Beherrschung fast zu spät und er ist nur froh, dass er im gleichen Moment das Schloßklappern der Badezimmertür vernimmt. Er drängt sich an der in etwa zwanzig Quadratmeter Frottéstoff gewickelte Carla vorbei. Während er sich im gehen die Unterhose in die Kniekehle zieht, klappt er mit der linken Hand die Toilettensitz hoch und bekommt mit, dass Carla wütend von der Flurseite die Tür zu zieht. Von wegen Männer sind nicht Multitasting fähig!
Noch während er das Fenster öffnet um für den nun nötigen Luftaustausch zu sorgen, klopft es an der Tür und der nächste Bewohner kündigt sein verlangen an.
Solche Ereignisse bestärken Brian in seinem Entschluss, dass wenn er Präsident der Baukommission oder wie immer auch der entsprechende Posten heißt, wird, was nebenbei bemerkt nicht sehr wahrscheinlich ist, dann wird er verfügen, dass Wohnungen für mehr als drei Personen mit mindesten zwei unterschiedlich von einander funktionierende Toiletten ausgestattet werden müssen. Aber all das kann jetzt warten. Zu erst mal muss er sich mit den schulischen Anforderungen auseinandersetzen. Ja, es gibt Teilbereiche welche zugebender Weise, nicht ganz sinnlos erscheinen oder sogar interessant sein könnten. Aber im Allgemeinen sind die Stunden im Lehrerknast, nur lästig und versauen einem die Mehrzahl der Wochentage. Also, wenn er Bildungspräsident oder so wäre, dann würde er verfügen, dass ab einer bestimmten Jahrgangsstufe, jeder nur noch Interessengebunden die Schule besuchen muss. Brian würde auch Unterrichtsfächer wie Ausschlafen, mit der Hand abspülen, oder Schuhbandbinden - als Pflichtfächer etablieren. Dinge die nach seiner bescheidenen Meinung, drohen ausgerottet zu werden.
Als er wieder ins Wohnzimmer gestolpert kommt, hat sich der Zustand gebessert. Erstaunlich sogar. Vorhanden sind gefühlt tausende herumliegender Utensilien wie Messer, Stifte, Pappen, Leinwände, Fotos, kleinen Flaschen und Dosen mit Farben und Chemikalien, welche zum Auslösen des dritten Weltkrieges locker reichen würden. All das liegt nun nicht mehr kreuz und quer auf dem Fußboden verteilt herum, sondern wartet ab jetzt stapelweise nach irgendeinem von außen nicht erkennbaren System, ordentlich nebeneinander auf irgendwas, was noch in diesem Jahrzehnt folgen mag! Trotzdem ist an eine zivile Nutzung des gemeinsamen Wohnzimmers vorläufig jedenfalls nicht zu denken. Entnervt dreht sich Brian auf dem Hacken um, macht auf der Liste mit dem Bauvorschriften in seinem Kopf, noch eine weitere Forderung nach einem Ersatzwohnzimmer auf und schlürft in sein Zimmer! Dort empfängt ihn sein eigenes System der Ordnung. Es ist alles an seinem Platz! Nun ja, man könnte mal lüften und sogar ein Staublappen wäre vorstellbar, aber im groben, passt es!
Da bin ich wohl doch eher Mamakind. Im Arbeitszimmer, wo Katrin das sagen hat, ist alles klar und ordentlich. Sonnst kann man auch nicht richtig arbeiten, verbreitet sie auch gerne ungefragt und fortlaufend ihre Meinung. Wie soll man hier auch in den wenigen abendlichen Stunden sämtliche Klassenarbeiten kontrollieren und noch den Unterricht vorbereiten. Undenkbar bei der räumlichen Enge von kleinem Schreibtisch, Bürostuhl, Schränken, Kisten, raumhohen Regalen und einem Chaos von Claus. Wenn man ihn machen ließe, wäre der Weg zum völligen Durcheinander unaufhaltsam eingeschlagen. Der schafft in nullkommanix, überall mindestens liebevolle Unordnung. Das wäre auf keinen Fall der Weg eines logikbasirten Menschen. Hier muss verlässlich alles am dafür vorgesehenem Ort sein.
Nicht so bei Claus. Irgendwie kommt er ja manchmal mehr, manchmal weniger fluchend damit zurecht und seine durchaus vorzeigbaren Arbeitsergebnisse verraten nicht wirklich, unter welchen chaotischen und hin und wieder eher zufälligen Umständen diese zu Stande gekommen sind. Claus hat Händchen, Auge und Fortune. Am meisten Glück hat er mit Katrin! Nicht nur attraktiv, intelligent und fleißig. Nein, Katrin brennt immer noch für ihn, gleicht nach wie vor seine großen Schwächen aus, von deren Existenz Claus auch nicht einmal vollumfänglich eine Ahnung hat. Es schmeichelt seinem künstlerischen Ego, mit einer rundherum präsentablen Partnerin auf Augenhöhe unterwegs zu sein. Dabei in Bereichen seiner Steckenpferde, der immer wissbegierigen Frau, Aspekte und Nuancen der Bildenden Kunst nahe bringen zu können.
Brian wünscht sich für sich, eine Mixtur aus beiden Elternteilen zu sein. Wie war das noch mit den Vererbungsregeln…?
Egal, ist eh nicht zu ändern!
Als er auf sein Taschenkommunikator schaut, sind diverse Nachrichten eingegangen. Die Welt scheint sich auch während der Toilettenbesuche weiter zu drehen. Eine Aufforderung für eine Trainingseinheit in der Muckibude. Zwei unbedeutende Statusmeldungen und einige Anfragen für die Abendgestaltung. Hubs, es ist ja schon halb drei! Erst mal was für Mathe machen, fast freiwillig, man(n) kann eben die Gene nicht verleugnen. Eine Stunde dreißig und vier Seiten frisch geschriebener wilder Formeln- und Zahlensalat später, denkt er über eine Tasse Kaffee und einer kleinen Belohnung für die Fleißleistung nach. Auf dem Weg zur Küche glaubt er an Wunder als er seine Augen in das Wohnzimmer gleiten lässt. Die Grundfarbe von Fußboden, Sofa und allen anderen Ablagemöglichkeiten ist wieder ohne weiteres zu erkennen, Claus liegt vollkommen ermattet auf dem Sofa und hat einen Stapel kleiner Karteikarten in den Händen. Da Claus seine gesamte Konzentration auf diese Elemente gebündelt hat, schlürft Brian wortlos weiter in Richtung Kaffeemaschine. In der Küche angekommen, verlässt ihn fast seine Selbstkontrolle. Seine aller liebste Schwester ist mit viel Sorgfalt dabei den Tisch zu decken. Es steht ein Backblech mit Obststreuselkuchen in der Mitte und sogar Servietten wurden bereit gelegt. „Och, Manno, immer kommt ihr Männer zu früh!“, entfährt es ihren Lippen! Das war jetzt selbst für Carlas Waschweibkodderschnauze, ein bisschen zu fett, findet Brian. Er lässt die Worte verhallen und tut so als verstünde er die Doppeldeutigkeit nicht. „Nee“, sagt er „ Es riecht hier so lecker!“ „Womit haben wir denn das verdient? Hast du irgendwas gut zumachen oder willst du dich nur wie üblich bei den Eltern einschleimen?“ Carla hat schon auf solch bescheuerte Provokationen gewartet und antwortet nun gelassen“ Ne, mein Bubi, ich muss nur nicht so viel für die Uni tun, wie du für deinen mittelmäßigen Schulabschluss! Da hab ich eben noch Zeit für ein Hobby!“
OK! Das hat gesessen und zu allem Überfluss hat sie auch zumindest ansatzweise Recht. Der fliegt auch alles zu, erkennt Brian neidvoll an. Und wenn der Kuchen nur halb so gut schmeckt, wie er aussieht und riecht, sollte sie ihr Mathestudium abbrechen und eine Konditorei aufmachen. „Wann geht es denn los?“ fragt er. „Wenn du deine Eltern geholt und ich die Sahne geschlagen habe!“ „Super bin schon auf der Suche nach deinen Eltern.“
„Vadder, jetzt muss ich doch stören. Du musst jetzt in die Küche kommen und wo ist denn deine Frau?“ Verdutzt schreckt Claus von einem Nickerchen hoch und reibt sich die Augen. „ Eh, vorhin war sie mal kurz hier und dann ist sie wieder weg!“,Super, danke für so viel Information, denkt sich Brian und schlendert weiter zum Arbeitszimmer, aus diesem nicht näher bestimmbare Geräusche dringen. Klopfen und Türöffnen sind nicht zeitlich versetzte Handlungen und so sieht Brian seine Mutter gebückt über scheinbar wahllos verteilte Hefte einer siebenten Kasse. „Eh, Mutt“ sagt er sanft und fast flüsternd, „ jetzt mach mal ne Pause und komm unverzüglich in die Küche!“ Katrin schaut auf Ihren körperlich fast erwachsenen Sohn als ob ihr ein Geist begegnet wäre, lässt sofort den Stift aus der Hand gleiten und macht sich mit dringlichkeitahnender Geschwindigkeit in die Küche auf.
Zu ihrer hellen Freude und nicht gespielter Überraschung, muss sie keine Erste Hilfe leisten, irgendwas auffegen, wegwischen oder andere katastrophale Folgen mindern, sondern sich im Kreise ihre geliebten nächsten Verwandtschaft hinsetzten und Kaffee und Kuchen genießen! Ebenso reagiert Claus mit unverständigem Kopfschütteln. Er hat ja schon seit längerem aufgeben in seinen vier Wänden alles verstehen zu wollen. Und so sitzen die vier in seltener Eintracht beieinander. Futtern und Trinken hält die Seele und Familie beieinander. Nach dem zweitem Stück Kuchens, welches die Hobbybäckerin ihren nächsten Verwandten aufschaufelt, verstummen auch langsam die Fragen nach dem Warum? Es war nicht möglich der Carla einen Grund für diese wunderbare Abwechslung zu entlocken! Der elterliche Argwohn bleibt, wird aber galant hinten an gestellt. So erledigt Claus nun seine Aufgaben als eloquenter Unterhalter am Küchentisch. Die Rolle spielt er nicht nur, nein, er lebt sie! Die anderen drei genießen den Kuchen und die Unterhaltung. So haben alle ein ehrliches Gefühl, einer intakten Familie anzugehören. Eigentlich wissen sie das sowieso. Selbst die Jugend die sich nach Herzenslust fetzt, klebt irgendwie doch zusammen.
Nachdem das halbe Blech in die vier Münder wanderte, löst sich die Versammlung wieder auf. Ein jeder tut, was er eben tut.
Für Brian bedeutet das Vorbereitungen für den Abend treffen. Verabreden, Duschen, Aufbrezeln und ab auf die Piste. Das würde alles einfacher sein, wenn er nur schon 18 wäre. Eigentlich ist es egal, aber erstens sieht er eben noch nicht wie ein älterer Jugendlicher aus und wird wegen jedem Kram nach seinem Ausweis gefragt. Und zweitens, darf er nach 12 nachts nirgendwo mehr sein. Seine Eltern sind cool und vertrauen ihm, das ist nicht das Problem. Es ist der Jugendschutz! Vor wem oder was soll er denn geschützt werden? Vor sich selbst, vor feindlichen Jugendbanden oder vor Mädchen, die nach zwölf noch nicht nach Hause wollen (grässliche Vorstellung)? An legale oder illegale Drogen würde er, wenn er den Bedarf hätte, auch vor Mitternacht kommen. Sei es so, es sind ja nur noch ein paar Wochen. Das hilft nun für den heutigen Abend auch nicht weiter! Heute geht es erst einmal zum Bushäuschen. Checken was läuft und auf alle warten. Dann vielleicht noch in den Keller. Das ist, wie der Name schon sagt, ein Keller. Nur etwas größer und etwas besser ausgebaut als die Namensverwandten an den sonst üblichen Wohn- und Gewerbebauten. Was dort abgeht oder eben auch nicht, ist nicht immer so eindeutig vorherzusagen. Konzert, Kneipe, Partylocation, Disco, Abhängen, Quatschen und sich präsentieren, je nach persönlichen Vorlieben. Da sich diese jederzeit in der betreffenden Zielgruppe ändern können, wird vom Betreiber kein obligatorisches Eintrittsgeld verlangt. Somit ist wohl dauerhaft der Zustrom der Gäste gesichert. Denn für Umme irgendwo drinnen sein zu können, ist für die Jugend kein Normalzustand. Um zwölf ist dann aber damit dann auch Schluss aber das sind ja noch über fünf Stunden.
Halb acht, eingentlich zu früh, trudelt er im Keller ein. Somit hat er wenigstens einen der begehrten Plätze auf dem verranzten Ledersofa gegenüber des Tresens. Von hieraus hat man einen fantastischen Überblick über das Treiben im Keller. Hier im Keller sind die Geschlechteranteile ausgewogen, genauso wie Musikrichtungen, die aus dem fetten Boxen hämmern!
So sitzt Brian, ohne besonderen Druck auf etwas zu warten, was ohnehin nicht eintrifft auf dem Sofa, nuckelt an einer kleinen Flasche Radler und lässt sich inspirieren von den anderen Gästen. Einige sind deutlich älter als der Durchschnitt, andere deutlich schicker angezogen, wieder andere sind dick, dünn, schwarz, groß, muskulös und und und ! Nur Touristen scheint es hier nicht wirklich zu geben und das ist gut so.
Einige Gäste kennt Brian vom sehen, bei manchen weiß er sogar die Namen aber die Mehrheit ist ihm fremd. So kann er fast ungehemmt die Leute beobachten. Sein Gehirn macht manchmal ein paar Änderungen an den Leuten die er sieht. Bei manchen hübschen Jungs dichtet seine Fantasie noch eine Narbe ins Gesicht, ein Doppelkinn oder eine auffällig schiefe Hakennase ziert dann den Kopf. Halbglatzen, Buckel oder unterschiedlich lange Beine sind auch bei dem einen oder anderen Bengel im Angebot seiner Fantasie.
Einige Mädchen verändern ihr aussehen ebenso mysteriös. Die Haare werden länger, blonder oder gewellter. Manche Röcke werden kürzer und enger. Einige Augen bekommen einen wacheren Blick, einige Gesichter bekommen wesentlich weniger Schminke und viele Blusen werden Figurbetonter. Furchtbar wenn man mit siebzehn schon weiß was man (nicht)will. Dann, auf einmal wird im heiß und kalt zu gleich! Seine Schwester, zurecht gemacht wie er sie selten gesehen hat. Ja, „Vorzeigbar“ ist ein Euphemismus oder fast schon Blasphemie! Er wird kleiner und kleiner und möchte jetzt an so fast jedem anderen Ort sein, nur nicht im gleichen Keller mit seiner alles wissenden, jetzt auch noch verboten gut aussehenden Schwester. Und wen hat sie da denn im Schlepptau? Lauter aufgekratzte Weiber. Puhh, der spontane Wille aufzustehen und das Weite zu suchen wird von einem „Hallo Kleiner“ zu Nichte gemacht. Sogleich strafft sich seine Körperhaltung und er antwortet ohne vorher darüber nachzudenken „Du weißt genau, wer hier kleiner ist!!“ Erstaunlich registriert er seinen unerwartet coolen gedehnten Satz als Antwort auf die Geschwisterbegrüßung. Was am erstaunlichsten ist, er wir nicht mal rot, als er die musternden Blicke der begleitenden Mädels auf seinem Körper spürt. Unerwartet steht er auf, nimmt seine Schwester kurz in den Arm und drückt der nun fast wehrlos verdatterten jungen Frau, einen übertrieben lauten Schmatzer auf die linke Wange. Dann streicht er sich seinen in die Stirn gefallenen Scheitel mit der rechten Hand mittels einer seit langem heimlich vor dem Spiegel geübten Bewegung weg, dreht sich um und geht in den Nebenraum um nicht in Ohnmacht fallen zu müssen.
Als er durch den Torbogen aus dem Blickfeld der weiblichen Augenpaare verschwunden ist, bekommt er weiche Knie. Gibt es einen Weg ins Freie? Was hab ich getan? Wie geht das jetzt weiter? Die waren doch alle über zwanzig!Ich bin verrückt! Mit einem Zug trinkt er die angenuckelte Flasche leer und knallt diese unbeabsichtigt laut auf den nächsten freien Tisch. Egal was die anderen Mädels jetzt denken, seine Schwester wird sich das wohl kaum gefallen lassen und ihre Rache kann erstaunlich kreative Züge annehmen.
Langsam beruhigt sich die sportliche Hülle von Brian wieder und die Körperfunktionen laufen wieder normal. Das bedeutet in seinem bedauerlichen Fall, erhöhten Harndrang! Ok. Da muss ich jetzt durch. Locker bleiben und im Zweifel flüchten. Betont locker und geschmeidig biegt er langsam auf dem Weg zur Toilette ein. Bedauerlicher Weise hat er vergessen, wie viele Freundinnen seine Schwester dabei hatte und wie sie aussahen. So konnte er niemand identifizieren. Nur seine Carla sah er aus dem Augenwinkel hinten mit dem Rücken zu ihm stehen. Das nicht der dritte Weltkrieg tobte, verleitete ihn zu der Annahme, dass seine Showeinlage keine so weitreichenden Konsequenzen haben wird wie er fälschlicher Weise angenommen hatte.
Nach dem Klo ist vor der Bar und so bestellte er sich noch ein Hipgetränk, Gurken-Ingwerlimonade mit Minze! Genau das war´s , was er jetzt brauchte! Eine Hand legte sich von hinten auf seine Schulter. Fast erschrocken, fuhr er um und sah erst Carlas Hand, dann Arm und dann das was da gewöhnlich dranhängt, heute nur ungewöhnlich hübsch zurecht gemacht. Wild lachend erzählt sie Ihren Begleiterinnen, dass sie mit diesem Sahnestück von Bübchen, heute schon in ausgebeulter Unterhose gefrühstückt hatte. Der Kloß in Brians Hals schwoll zu einem Kürbis. Ungewöhnlich charmant kam fast automatisch sein Beitrag zur Show, der wohl nicht so ausfiel, wie Carla es sich erhofft hatte. „ Darf ich dich erinnern, dass ich unter keinen Umständen diese Hose ausziehen sollte!“ Das süffisante grinsen der Mädchen geht in schallendes Gelächter über. Carla, deren Hand immer noch auf Brians Schulter tronte, wurde es zu bunt mit dem Versteckspiel und begann die Verwirrung um den „Schönen Unbekannten“ aufzuklären. Das scheinbar er den Disput einigermaßen heil überstanden hatte, ließ Brian um nochmals ca. 15 cm wachsen. Mit geschwollener Brust und sichtlichem Genuss, registrierte er dass Gefühl „des Hahn im Korb“, hatte aber keine Ahnung was das noch bringen könnte. Die Mädels feierten irgend ein Geburtstag oder Jahrestag oder sonst irgendwas, so genau war es nicht rauszubekommen. Einen Grund zum feiern brauchen doch immer nur die Männer. Frauen gehen aus und haben Spaß, auch ohne Grund!
Nach der zweiten runde Gintonic, wollten sie jedenfalls weiter ziehen. Für Brian neigte sich der Abend dem Ende entgegen. Zwar fühlte er sich nicht unwohl in dieser Gesellschaft, hatte aber immer noch den Argwohn der Carlarache, es war viertel nach elf und morgen hatte er eine Verabredung zum Training, um halb zehn! Alles im Allem, reichte es auch. Er war ziemlich verdutzt, dass die Begleiterinnen seiner Schwester ihn beim Verabschieden umarmten, zwei der vier ihn fast unmerklich einen Kuss auf die bartfreie Wange drückten und eine sich sehr stark an ihn drückte, um so in Erinnerung zu bleiben. Nur seine Schwester winkte von weitem und machte eine anerkennende Kopfbewegung. Wenn das bei Frauen ab zwanzig normal ist, ist das ein Grund zwei, drei Jahre älter zu werden! Als die Mädels weg waren und er

den Rest aus dem Glas geleert hatte, knöpfte er sich seine Jacke zu und stieg aus dem Keller an die Oberfläche der Stadt. Fast alles in der Nähe schien schon zu schlafen, so wie er in einer halben Stunde auch. Wie gut, dass das Bett in der elterlichen Wohnung nur ein paar Straßenecken entfernt ist. Als seine rechte Hand in die Jackentasche glitt um den Schlüssel zu erkunden, fühlte er einen Zettel von dem er wusste das er neu war. Verdammt was war das denn? Ein Bierdeckel, eindeutig aus dem Keller, am Rand eine Telefonnummer! Beim aufschließen der Wohnungstür geschah es dann doch, was er den ganzen Abend erfolgreich verhindert hatte. Er wurde rot, ROT wie eine Rose, ROT wie eine frische Blutlache bei einer anständigen Schlägerei! Ruhig Brian, sagt er sich, das ist kein Videospiel, das ist das Leben, ganz ruhig! Verdammt, von wem war die Nummer und wie war doch gleich der Name? Hätten die nicht soviel gegackert und durcheinander gequatscht, vielleicht hätte ich mir dann mehr gemerkt. Allein unter fünf jungen Frauen, kann Mann auch schon mal die Übersicht verlieren sagt sich Brian und klopft sich selber zum Trost auf die Schulter. Ich sollte unbedingt kalt duschen, jetzt, sonnst ist an Nachtruhe nicht zu denken.
Gesagt getan, frisch verpackt in ein Schwammkopffreies T-Shirt und unausgebeulte Unterhosen schleicht er nun schon nach Mitternacht ins Bett, nicht ohne den Wecker für den Sporttermin zu stellen.


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