Das Alpenveilchen oder „Gute Nacht“ Brigitte
- Georg

- 24. März
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. März

Neulich war Brigitte Hartling beim Arzt. Warum ein Hausarzt eine Frau untersucht und nicht für Gebäude zuständig ist, ist ihr zwar noch unklar, aber ihre Krankenversicherung nervt sie schon seit Jahren, mal einen „Check-up“ zu machen, wie es scheinbar heute heißt. Blutbild, Blutdruck, Schilddrüse, Hautscreening Neurologe und Bewegungsapparat. Zahn, Gyn, Nieren, Augen und HNO - alles kommt zur Sprache. Außer, das nun eine Lesebrille fällig wird, alles ohne Befund. Merkwürdig gesund, da stimmt doch was nicht! Aus gesundheitlichen Gründen früher als der gesetzliche Rahmen es vorsieht aus dem Berufsleben auszuscheiden, ist für die Leiterin der Schweriner Kripo extrem unwahrscheinlich in diesem Zustand. Fast enttäuscht lässt sich Brigitte auf den Chefsessel sinken. Irgendwie ist sie durch, ziemlich durch sogar. Dauernd will irgend jemand was von ihr. Ihre Vorgesetzten, die regionale Politik, ihre Mitarbeiter und zum Schluss noch der Peter. Ein Glück, dass sie nicht noch Kinder hat, die alle Nase auch ihre Bedürfnisse haben. Nach nunmehr eineinhalb Jahren Leitungstätigkeit versteht sie ihren Vorgänger Fromm, erstaunlich gut. Der wollte auch bloß noch weg. Mit der sehr gut ausgestatteten Beamtenpension macht er sich mit seiner Trude einen Lenz. Jetzt schickt er hin und wieder ein paar Postkarten von seiner andauernden Wohnmobiltournee an die früheren Kollegen. So eine Reise täte Brigitte auch ganz gut und eigentlich stünde ihr auch eine Kur gut zu Gesicht. Es muss ja nich Algave oder Riviera sein. Am Bodensee oder Tegernsee scheint ja auch die Sonne. Da ja Brigitte seit ihrer Beförderung nix anderes mehr macht als sich durch den Verwaltungsdschungel zu kämpfen, ist die Beantragung einer Kur, das was sie im rückwärts Laufschritt mit verbundenen Augen hinbekommt. Schnell sind auch einige Kurkliniken ausgesucht, die in die engere Wahl kommen. Eine Diagnose und dem entsprechenden Therapieplan organisiert sie sich ebenso schnell wie sie die Arbeit in ihrer Abteilung während ihrer Abwesenheit auf vertrauensvolle Schultern verteilt. „Drei Wochen übersteht der Laden hier auch mal ohne mich“, ist sich Brigitte sicher. Ein paar Tage drauf, geht es nach Süden. Bad Meilau am Stapelsee, Postkartenidylle und Kur-Gemeinde in Oberbayern. Für fast einen Monat ihr neues zu Hause. Die. Anreise erfolgt stressarm mit dem Zug. Zwei mal umsteigen und fast pünktlich erreicht sie nach 8 Stunden Fahrt ihr Ziel.

Am Tresen der Anmeldung ist eine Schlange von anderen Ankömmlingen. Dahinter müht sich ein offensichtlich überfordertes bubiehaftes Wesen mit einer Mischung aus Dreitageflaum, Akne, Sommersprossen und wild in alle Himmelsrichtungen stehende dorfköterfarbende Strähnen mit den ihm zugeteilten Aufgaben. Es ist ja auch sehr schwierig, die neuen Kurgäste, Patienten, Kunden der Gesundheitsmaschine- wie heißt das eigentlich?, die vorbereiteten Zimmer zuzuweisen, Schlüssel und Unterlagen auszuhändigen und auf die kleinen Besonderheiten hinzuweisen. Wahnsinn, es grenzt scheinbar an Gehirnchirurgie. Brigittes Diagnose: entweder er ist selber reif für eine Kur oder der bekannte Fachkräftemangel grassiert auch hier. Egal, da sie es nicht eilig hat und eigentlich genau deswegen hier ist, es nicht eilig zu haben, erträgt sie die Wartezeit mit Würde und liest alle, aber auch alle Zettel, Aushänge und Schilder die im Atrium des Hauses aushängen durch. Nach einer Dreiviertelstunde ist sie genau über alles informiert und auch schon von Herrn Johann Schmidtenreiter, so der Name des Jüngelchen mit dem Zimmerschlüssel ausgestattet worden . Das Namensschild von Johann Schmidtenreiter prangt an seiner Uniform und nimmt fast die gesamte Breite seiner Brust ein. Ein Glück, das sein Name nicht noch länger ist, sonst wäre sein Rücken auch noch bedruckt. „Der wird jedenfalls nicht mein Kurschatten“ sagt Brigitte halblaut auf dem Weg zu ihrem Zimmer im Westflügel des zweigeschossigen, weit verzweigtem Bettenhauses. Im Erdgeschoss bleibt sie vor dem Zimmer 13 stehen und dreht den Schlüssel im Schloss zweimal rum. Gottseidank, diese modernen Zimmerkarten und elektronischen Türschließer kann Brigitte nicht leiden. Mit solch physischen Schlüsseln und entsprechenden Anhängen, hat man wenigstens etwas in der Hand. Sie rollt das Gepäck ins Zimmer, schaut aus dem Fenster und wird von einem grandiosen Sonnenuntergang mit Bergblick begrüßt. Ohne alles genau zu inspizieren, weiß Brigitte, dass alle ihre eigenen Erwartungen mindestens erfüllt sind. Durch die Terrassentür schlüpft sie ins Freie. Sogleich nimmt sie die Wiese, die sich zu dem steil aufragenden Wald hinzieht, in Beschlag. Am Wald angekommen umarmt sie erstmal den erstbesten Baum und drückt ihre Wange an die kratzige und gleichzeitig überraschend klebrige raue Rinde. Der harzige Geruch, das Lichterspiel der letzten Sonnenstrahlen des Tages die durch das Geäst auf sie niedertanzen und die absolute geräuschlose Ruhe lassen Brigitte die Strapazen der Anreise augenblicklich vergessen. „So kann’s weitergehen“ denkt sie sich, als von der Ferne Glockengeläut einsetzt und sie zurück in die Jetztzeit befördert. Zeit für das Abendessen. Sie räumt noch fix ihre Wäsche in den Schrank und stromert dann durch die verwinkelten Flure des Hauses zum Restaurantbereich. Dort wartet schon - natürlich- Johann Schmidtenreiter und platziert die Gäste umständlich an die Tische. Wenn der auch noch für das Essen zuständig ist, werde ich verhungern, denkt sich Brigitte! Ihr ihr zugewiesener Platz ist an einem großen runden Tisch an dem schon zwei andere in ein Gespräch vertiefte Damen sitzen. Diese bemerken Brigitte erst als sie sich beim hinsetzen furchtbar ihr linkes Knie an einem Tischbein stößt, dass die langstieligen Gläser auf dem Tisch bedrohlich wackeln. Brigitte, kurz davor vor Schmerz ihre Sebstbeherrschung zu verlieren, gelingt es aber freundlich zu grüßen und sich vorzustellen. Sie weiß zwar nicht, ob man das so macht, aber in der zeitlich begrenzten Schicksalsgemeinschaft, möchte sie nicht die Außenseiterrolle ausüben.
Und dann hat Brigitte eine Erscheinung. Schockstar schaut sie in die tiefblauen Augen, so blau wie diese Alpenblume, deren Name sie immer nicht weiß, eines Mannes , der offenkundig noch nicht einmal seine besten Jahre erreicht hat, wann immer die auch seien mögen. Die mit Sehnen und Muskeln definierten Arme, die für den Geschirrtransport vollkommen überentwickelt erscheinen, stecken links wie rechts in einem sportlich breiten Männertorso, auf dem Tom Schmidtenreiter steht. Na, Zwillinge sind die nicht, schlussfolgert Brigitte. Da wo das geknöpfte Feinflanell mit blau-roten Karos in Leistengegend aufhört, beginnt eine kleine aber formschön gefüllte Lederhose, welche knielang die sportlichen Waden ins rechte Licht rückt. Toms tiefblaue Augen werden von einem markanten Schädel gerahmt, der wie zu seiner eigenen Krönung, mit weizenblonden wild fallendem taudicken Schopf bedeckt ist. Mit anderen Worten, wenn es Tom nicht gäbe, die Frauen würden ihn sich backen. Mit freundlichem und wahrlich flinken Fingern kümmert er sich um Teller und Tassen, Besteck und Tischdecken, als wären es die verspannten Schultern oder die trockenen weichen nach Alpenwiese duftenden Badetücher der weiblichen Gäste einer Wellnessfarm. Mit der Nonchalant als wäre es das Natürliche der Welt, macht der Alpenriese, denn so erscheint er Brigitte, die nun auch kein kleines zartes Püppchen ist, aus der Sitzposition heraus, alle Kurer (vorwiegend weiblich, bis auf wenige Ausnahmen übergewichtig und unter normalen Umständen auch alterstechnisch niemals Beuteschema des Jägers, durch seine schiere raumfüllende Präsenz mehr als nur glücklich. Brigitte denkt sich den passenden Job bei der Polizei für ihn aus. Wenn dieser Typ an der Tür klingelt und einem die Todesnachricht eines geliebten Menschen überbringt, möchte man ihm am liebsten um den Hals fallen und als Dank ringsum abknutschen. Für einen Rohdiamanten ist er sicherlich viel zu erfahren, aber mit Bestimmtheit immernoch ein einzigartig leuchtendes Juwel an jedem Bettpfosten.
Auch Brigitte muss sich innerlich zur Ordnung rufen, um nicht in Tagträumereien zu versinken. Es sind eben nicht die signifikanten geschlechtlichen Markenzeichen, die so anziehend wirken. Es sind die tiefblauen Augen in denen man und speziell Frau ertrinken möchte. Wie im Transporterstrahl vom Raumschiff Enterprise werden die Gäste auf seiner Spur gefangen genommen. Und alle beten, dass der Kapitän im Raum zum Kapitänsdinner neben sich und auch noch danach ein freies Plätzchen auf seinem Schoß hat.
Gedanklich ohrfeigt sich Brigitte für ihre aus dem nichts erschienenen Bilder im Kopf. Aber warum eigentlich, die Gedanken sind frei. Und eigentlich sind ja die Gelegenheiten selten, aus dem gelegentlichen Techtelmechtel mit On-Off-Peter auszubrechen. Ja, dann und wann ist es sogar befriedigend mit ihm. Aber befriedigend ist in Schulnoten nunmal nur eine drei. Der hier, also der Tom Schmidtenreiter, der ist ein null/achter Abitur, da sind doch alle im Raum einig auch ohne darüber gesprochen oder ihn geprüft zu haben. So heiß wie der ist, dürfte er auch nicht aus der Übung kommen. Und es ist wie in der Schule, was man öfter übt, kann man auch besser als der Durchschnitt.
„Hoffentlich macht der „keine“ Massagen oder Moorbäder bei mir“ murmelt Brigitte halblaut und hoffentlich für niemanden verständlich. Die Faszination des kaum Erreichbaren nimmt Brigitte gefangen. Als sie später in ihrem Zimmer ist, muss sie erstmal kalt duschen. Sie kann sich auch nicht erinnern, ob und was sie zum Abendessen zu sich genommen hat. Jetzt, da sie wieder tickt wie sie normalerweise tickt und der Tom Lichtjahre entfernt scheint, liest sie sich die Zettelchen durch, die sie offenkundig im Speisesaal in die Hand gedrückt bekommen haben muss. Diese sind so zerknittert, dass kaum lesbar ist wann und wie der Tag morgen für sie starten soll. 8.30 Uhr Eingangsuntersuchung rät sie. Warum soll sie den Hauseingang untersuchen? Egal, erstmal „Gute Nacht“ Brigitte.




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