Neuer Tag , neue Geschichte
- Georg

- 31. März 2022
- 2 Min. Lesezeit
Jo
Chily liegt bäuchlings auf dem flach nach innen geneigtem Dach des 11-Geschossers. Ihr braun gelockter Kopf ragt bis zum Kinn über den Dachrand hinaus und schaut in die Tiefe. Sie schreit an Yasmin adressiert in den Wind, dass sie gleich versuchen will, mit ihrem Spuckefaden das Fenster im neunten Stock zu treffen. Yasmin, die immer noch mit dem Rücken an der Aufzugsüberfahrt lehnt und derweil die zweite Zigarette raucht, weiß genau wer im neunten Stock wohnt. „Und wie willst du das anstellen?“ schreit sie zurück! Chily fängt daraufhin wie wild mit dem rechten Arm an zu rudern. Es ist vielleicht kein klares rudern, vielmehr ein herbeiwinken. Als Yasmin auch, etwa 30 Zentimeter neben Chily ihren Kopf über den Dachrand schiebt, hängt schon ein mannslager Faden aus Chilys Mund!
„Wie machst du das?“ fragt Yasmin ganz sachlich, aber Chily kann naturgemäß nicht mehr antworten! Scheinbar genussvoll, kaut sie Kaugummi und übt dadurch kleine rhythmische kreisförmige Impulse auf den immer länger werdenden Aule-Faden aus. Yasmin denkt gerade darüber nach, in welchem Unterrichtsfach dieses Experiment wohl vorzeigbar wäre. Da sie in den Naturwissenschaften nicht so sattelfest ist wie sie es gerne hätte und der Sportlehrer doof ist, entscheidet sie sich für Kunst! Urplötzlich beginnen die Kreise größer zu werden und das untere Ende des Fadens, der schon vor dem Fenster des obersten Stockwerks baumelt, läuft Gefahr gegen die Wand zu klatschen. Mit einem tiefen grollen aus dem Innersten ihrer Seele, schickt Chily nun ihr Machwerk auf den Weg. Verwegen schlingert die Materie, dank der Schwerkraft abwärts! Kaum durch den lebhaften Wind in der luftigen Höhe zu beeinflussen, pendelt der Spuckefaden nun spiralförmig vorbei am Stockwerk zehn! Vier Mädchenaugen starren nun auf das finale Ergebnis von Mut, Leichtsinn und Jux! Kurz über dem oberen Rand des Fensters im neunten Stock, schleift nun der Faden das erste mal an der Fassade des Wohnblocks! Daraufhin kollabiert die Flugformation komplett. Der Faden wird instabil und scheint sich nun selbst zu überholen! Das hintere Ende, welches bis vor kurzen noch an Chilys ungeschminkten Lippen hing, überrollt alles Vorgeschickte. Irgendwie hat nun die steife Briese ein leichteres Spiel mit der zunehmenden Angriffsfläche des Konglomerats. So wird die transluzente gelartige Masse olympischen Ausmaßes mit einem auch aus der sichern Entfernung des Daches wahrzunehmenden „Flatsch“, passgenau an die Glasscheibe des auf Kipp gestellten Fensters gedrückt!
Chily muss sich auf die Hand beißen, um nicht vor Jubel zu jaulen. Rückwärts robbend, schieben die Mädels ihre 15 jährigen unfertigen Körper aus der Gefahrenzone. In der Mitte des Daches angekommen, stehen sie auf und klopfen sich sauber. Die Knie und Ellbogen haben ein paar Schrammen bekommen, aber das war es allemal wert!
Und auch wenn Jo zwei Jahre älter ist, wird er dafür bestraft einfach mit der Jule aus der Parallelklasse rumzumachen!




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