Lonesome George
- Georg

- 5. Dez. 2023
- 3 Min. Lesezeit

Der letzte (m)einer Art. Stimmt und stimmt auch nicht.
Zum einen habe ich mich ja fortgepflanzt und die Buben kann und will ich nicht leugnen. Aber da ich hingegen aller Erwartung das nicht, sagen wir mal, nicht vollständig alleine hinbekommen habe, sehe ich bei den Charakterzügen des Nachwuchs auch eindeutige Hinweise auf Fremdverschulden. Also ist meine DNA nur verwässert, verfälscht oder deformiert weitergegeben worden.
Die armen Buben, müssen diese doch für ihre Tage unter der Sonne nicht nur mit meinen zweifelhaften Gaben, sondern auch mit den mindestens 50-prozentigen Beimischungen ihrer Mutter, als nicht immer nur wohlschmeckendem Cocktail zurecht kommen. Das Thema kann ich ja mal gesondert abhandeln.
Zum anderen, ist mein Zwilling, wie meine anderen beiden Geschwister auch, ein anderer Typ als ich. Wir ergänzen uns beruflich und menschlich einigermaßen und haben dennoch durch spezielle Prägungen, Interessen und Erfahrungen diverse Alleinstellungsmerkmale. Stellt sich natürlich die Frage, was ist prägender, Herkunft oder Erziehung ? In meinem Fall ist es gleichgültig. Wir kommen aus dem gleichen Stall und "genossen" sehr ähnliche erzieherische Erfahrungen. Trotzdem möchte ich nicht mit ihm oder den anderen Nachkommen meiner Eltern, ganzjährig eng an eng leben. Und die drei auch nicht mit mir, glaube ich!
Der Letzte (m)einer Art- je nach dem, wenn man „Art“ mit „Sorte“ und nicht zum Beispiel mit „Kunst“ übersetzt. Kunst ist so vielfältig, da könnte ein rethorisch geschickter Autor, alles mögliche draus machen und Kunst bekommt mit "Überlebens-" ein bedrohliches Vorwort.
Je älter ich werde, desto glaubwürdiger schlüpfe ich in die Rolle des Alleinigen. Den Lauf der Geschichte versteh ich nach und nach immer besser, was aber bei mir zu einer allergischen Reaktion und zum abwenden von dieser führt. Meine körperlichen Bewegungen und Geschwindigkeiten werden denen einer Riesenschildkröte immer ähnlicher.
Die Anzahl und Beschaffenheit meiner Falten ähneln zunehmend dem tierischen Vorbild. Gewinnbringend kann ich nur noch sporadisch, allenfalls als schmückendes Beiwerk, als Maskottchen eingesetzt werden. Im beruflichen, freundschaftlichen oder sportlichem Umfeld. Manchmal wünsche ich mir sogar auch einen prima Schutzpanzer. Ich werde mit den Jahren, wenn schon nicht gleich verbitterter, dann doch schrulliger, marottenhafter, nachdenklicher, aber auch nachsichtiger. Sowohl mit mir selbst, als auch mit meiner Umwelt. Bin ich doch als Kind oft unzufrieden und ungeduldig ob meiner eigenen Leistungsklasse gewesen, weiß ich heute, dass ich ein Kind der ersten, damals undiagnostizierten, ADS Generation war und warum vieles war wie es war. Meine durch alle Lehrer attestierte fixe Auffassungsgabe war schlichtweg das Fehlen des Selektos, der festlegte was Wichtiges und was Unfug war. So hab ich sozusagen aus versehen, viel überflüssiges Wissen angehäuft. Ich war sobald ich die Augen aufschlug - an, unregelbar zu 110%. Das verbrauchte Ressourcen. Ich konnte futtern bis bei anderen Kindern der Arzt kam und war trotzdem nur ein Däumling. Wenn ich bei Klassenarbeiten, weil ich aus dem Fenster guckte, zu mehr Konzentration ermahnt wurde, fragte ich was das sein soll. Der Vogel da draußen war schließlich genauso wichtig, wie die geforderten chemischen Gleichungen. Alles war immer bunt und laut. Jahrmarkt 365 Tage lang. Aus zu vielen gleichrangigen Reizen für meine Sinneszellen, machte ich ohne Filter oft mittelmäßige und stark schwankende schulische Ergebnisse. Wer immer alles mitbekommt, bekommt nur selten etwas wirklich gut hin. Gottseidank reflektiert sich ein normaler Teenager nicht so gründlich. Und ich war wohl trotz alledem ein normaler Teenager. Aus heutiger Sicht schieben sich viele Ungereimtheiten zu einem passenden Bild zusammen. Es macht mich sehr viel zufriedener mit mir selbst. Ob sich mein Spezialeffekt nun abgeschwächt hat oder ich nur gelernt habe anders, besser damit umzugehen kann ich nicht beurteilen. Es fehlt schlicht die Referenz. Auf jeden Fall würde ich für mich und alle anderen Menschen die betroffen sind behaupten, dass die Gaben die mit der Diagnose normalerweise einhergehen, eine riesengroße Chance sind. Wird man doch in die Lage versetzt, die Umwelt sehr schnell, präzise, umfänglich und unverfälscht wahrzunehmen. Was dann jeder mit diesen unglaublich vielen, zum Teil verwirrenden und widersprüchlichen Informationen macht, liegt an jedem selbst. Eine Krankheit ist ADS erst dann, wenn der Umgang mit den symptomatischen Begleiterscheinungen für einen selbst oder die Umgebung problematisch ist. Das ist bei mir schon lange nicht (mehr) der Fall, egal was die Anderen sagen! Altern hat manchmal auch gute Seiten. Heißt aber nicht, dass wenn ich über 100 werde, ausgestopft und ausgestellt werde, wie der echte Lonesome George.




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