Genosse Jörg Bela Teil 6
- Georg

- 31. Jan. 2022
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Nov.
So werden alle nur denkbaren Lebensumstände fortlaufend auf den Prüfstein des Fortschritts gelegt. Messlatte muss sein, wie auf dem schnellsten und effizientesten Weg alle Beschlüsse des Zentralrates umgesetzt werden können. Aber so können alle Feststellungen über das Fortschreiten der entwickelten Volksgesellschaft nur Momentaufnahmen sein. Alles muss ständig neu bewertet werden. Denn Daten die Erfasst und Verarbeitet sind, sind ja automatisch Daten aus der Vergangenheit. Da wir (so Bela) ein fortschrittliches der Zukunft zugewandtes Volk sind, wollen wir Daten von Morgen erheben. Nur so könnten wir im Wettbewerb der Systeme dem Gegner den Wind endgültig aus den Segeln nehmen. Denn wenn wir wissen wie gut wir morgen leben, können wir gar nicht mehr unterlegen sein.
Bei einem solchen Pensum ist die Arbeitswoche rum wie nix. Ehe du dich versiehst, ist es schon wieder Sonntag. Viele der rückständigen Urbevölkerung zieht es am Morgen in die Kirche.
Für Jörg ist der Tag des Herren, ein Tag für sich selbst! Er duldet keinen zweiten Gott neben der Partei und so schläft er bis Schecke sich die Bettdecke schnappt und er von den Fliegen gekillert wird, die eine wunderbar warme Landebahn gefunden haben und so ganze Völkerstämme ihrer Gattung durch die geöffneten Fenster anzieht. Nachdem er der Marter durch beflügelte Monster in unvorstellbarer Mengen beendet hat, erfreut er sich über die erste Tasse Kaffee auf der eingerückten und somit halbüberdachten Südostterrasse. Von dort aus sieht er den laut läutenden Kirchturm, fein eingebettet in ein dachziegelrotes Meer der Marktgemeinde. Seiner Marktgemeinde, den für das Wohl und Weh ist er nun nach oben in Richtung Friedensstadt und in Richtung unten, Einheimischen verantwortlich. Langsam fühlt er sich nicht mehr als Fremdkörper, wird trotz aller beruflichen Zwist den er naturgemäß hin und wieder vom Zaun brechen muss, überwiegend freundlich manchmal sogar herzlich aufgenommen. Besonders und das ist schon zum Treppenwitz im Rathaus geworden, beäugen ihn die unverheirateten jungen Frauen des Ortes mit gesteigerten Interesse. Nun gilt es allgemein als befremdlich, wenn Mann mit fast dreißig Jahren noch keinen Goldenen Ring am Finger trägt. Auch die Partei ist an der körperlichen und seelischen Ausgeglichenheit ihrer jungen Männer, in der Kirche hätte man Würdenträger gesagt, aber das hätte sich Jörg verbeten (um im Bild zu bleiben) interessiert. Ja und warum eigentlich nicht. Es wäre ja auch nicht unbedingt gegen Jörgs erklärten Willen oder gar gegen seine Neigungen, wenn sich ein weibliches Wesen finden könnte, welches sich nicht nur für die Rolle der ersten Frau im Ort, sondern auch für den Mann dahinter interessieren würde. Kommt Zeit, kommt Rat!
Das Fräulein Bärbel aus dem Vorzimmer, wäre zwar eine nahezu perfekte berufliche Symbiose, aber ihr eigenes Interesse zielt wohl eher auf das ihr gleiche Geschlecht ab, was für eine zukünftige Frau Bela ja durchaus beruhigende Informationen sein dürften.
Nachdem der Kaffeebecher geleert ist, geht Jörg in die Küche und kramt aus der nachlässig geführten Vorratswirtschaft, nur noch das wenige heraus, was er sich zum ausgiebigen Frühstück gönnt. Einen halben Laib Roggenbrot mit Kümmel und knackiger Kruste. Gesalzene Butter, Zwetschkenaufstrich und 300 g Rohen Schinken. Dazu einige Gläser Orangensaft und es gibt keinen weit und breit, der am Nachmittag rüstiger durch den See kraulen wird.
Um halb zwei erreicht Jörg bewaffnet mit Handtuch, Strandmatte, der Wochenendausgabe der Regionalzeitung, Sonnencreme und seiner, er nennt es Badehose, die weite Wiese am Ufer des Stapelsee. Es gäbe zwar noch ein Freibad in unmittelbarer Nähe, aber da rennen kurze mit Eis verschmierte Schreihälse quer über die Badegäste hinweg. Oder marodierende Jugendbanden markieren den Dorfhärtesten. Damit muss er sich schon die anderen sechs Tage der Woche rumärgern.
Auf der Wiese ist noch ausreichend Platz, auch wenn von Geheimtipp nun auch nicht mehr gesprochen werden kann, bei Sonnenschein und 27 Grad.
So rollt er seine Habseligkeiten aus und zieht sich mir-nix-dir-nix die Badehose an. Prüde war er ja noch nie, auch wenn es nicht immer ganz ohne Textil sein muss. Das was bei Jörg dort unten zu verdecken ist, passt auch ohne viel Mühe an den dafür vorgehenden Platz und so kann es ohne viel Federlesen gleich in das kühle Nass gehen. So fast nackt auf der Badewiese ist er auch froh, nicht von jedem erkannt, gegrüßt oder bequatscht zu werden. Und so fängt er nach einigen lockeren Metern auch sogleich mit dem fast tranceartigen ziehen seiner Bahnen, Schneisen ja fast Wasserstraßen an.
Von Jörg fällt nun all der wöchentliche Stress ab. Jetzt nur noch Körper, da das Gehirn nur noch lebenserhaltende Funktionen unterstützt, funktioniert sein Körper wie ein gut geöltes Uhrwerk, kann er den aufgestauten Frust und alle unglücklichen Situationen der letzten Woche mit sich und dem Wasser ausmachen. Mit jedem Meter , mit jeder Runde um die Große Insel in Seemitte, verlässt immer mehr schlechte Energie seinen Körper.





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