Ein Wagon voller Narren
- Georg

- 1. Apr. 2022
- 4 Min. Lesezeit
Am Leipziger Hauptbahnhof steht der Zug, der von Hamburg nach München fährt für einen kleinen Moment still und starr am Bahnsteig 3. Den wartenden Menschen ist es natürlich vollkommen Sonnenblume, wo der Zug her kommt. Wichtig ist nur, dass er dorthin fährt, wo sie hin wollen und das flotti-karotti! Der Moment Null, den es eigentlich nur rechnerisch gibt, dieser magische Zustand, wenn alle die in Leipzig den Zug verlassen draußen sind und noch keine neuen Reisenden, kein Nachschub für das Bordrestaurant oder neue „Zugbegleiter“ des Fuhrunternehmens zugestiegen sind! Das ist der Moment, in dem Wunder passieren. Sterne vom Himmel fallen oder sich Menschen unsterblich in einander verlieben. Da wir hier aber in der Realität unterwegs sind, hat der Zug erstens drei Minuten Verspätung und zweitens ist der Zug mit dem Verlieben & co, für die meisten Fahrgäste ohnehin abgefahren. Ob die DB ICE Züge die richtige Wahl währen, um mit Flugzeugen im Bauch auf rosaroten Wolken zu schweben, ist allgemein fraglich. Dazu müssten Menschen erst mal die Stöpsel aus ihren Ohren nehmen, die Augen von den elektronischen Wegbegleitern heben und mit allen ihren Sinnesorganen sensibel, voller Lust und Abenteuerdrang, auf Veränderungen in ihrer Umgebung lauern.
Aber die Menschen in Wagon 32, Nichtraucher, 2.Klasse , sind anders!
Astrid ist 32 Jahre alt und fährt mit ihrem in der Babyschale angeschnalltem 6 Monate altem schlafenden Wonneproppen, zu ihren Eltern. Diese wollten sie in Nürnberg vom Bahnhof abholen. So ganz doll freut sich Astrid noch nicht auf den jahrelang rausgezögerten Moment, in dem sie den glücklichen Großeltern offenbaren wird, dass ihr Schwiegersohn in spe, Jaqueline, also Jacky heißt und kein Klaus, Bernd oder Jörg zu erwarten ist! Das Verhältnis zu ihren Eltern würde Astrid ohnehin nicht als problemfrei bezeichnen. Deswegen ja auch die frühe räumliche Trennung vom Elternhaus. Astrid ging ja nicht in die Welt hinaus, der Ausbildung oder der Liebe wegen, das folgte alles später, sie ging, weil sie spürte der Enge des Jugendzimmers entfliehen zu müssen. Es waren nicht explizit die Eltern, es waren insgesamt die piefigen Verhältnisse der konservativen Vororte der fränkischen Hauptstadt. Jetzt, nachdem sie in der Tat ihr halbes Leben woanders gewesen ist, in der Fremde zu ihrem Leben fand, Beruf und Familie für sich selbst, auf ihre eigene Art klar gemacht hat, kehrt sie Heim und sei es nur für ein paar Tage.
Eineinhalb Reihen vor Astrid sitzt auf der gegenüberliegenden Stuhlreihe ein in Sportkleidung des örtlichen Fußball-Clubs gehülltes Riesenbaby, Teenager oder Nachwuchsathlet, je nach dem, wer diese Mischung aus Testosteron, Haut und Muskeln beschreiben soll! Was heißt sitzt, Kevin ist einsvierundneunzig und bringt satte zweiundneunzig Kilogramm Kampfgewicht mit auf das Feld. Er lungert dementsprechend auf der für den Durchschnitt konzipierten Stuhlreihe herum und füllt diese damit stattlich aus. Mit diesen Abmessungen hat man nach der heimlichen Abschaffung des Liberos im aktuellen Fußball nur im Tor platz. Da macht er seine Sache sehr gut und er ist auf dem Sprung ins Männerteam. Aber Herr Miller, sein Spielerberater, sagt, dass das viele Andere auch sind. Er soll mit Talent, Geduld und Fleiß weiter clever an seinem Durchbruch arbeiten! Vor allem, soll er sich nicht ablenken lassen und an sich glauben! Sagt Herr Miller! Genau die richtigen Worte für einen Bengel, für den der Rasen immer wichtiger als der Klassenraum war, dem Selbstzweifel aufgrund der persönlichen Physis fremd waren. Erst seit kurzem bemerkt Kevin, das es außerhalb des Fußballtors noch andere Dinge gibt, die ihn interessieren. Mädchen! Davon hat Herr Miller aber nichts gesagt, oder doch?
Am Gruppentisch, zwei Reihen weiter vorne oder hinten, je nachdem, hat ein Herr im mittleren Alter seinen Arbeitsplatz eingerichtet. Nervös schaut er immer wieder hektisch zur Tür, als wenn er erwartet oder befürchtet, dass irgendjemand seine fragile Arbeitswelt durch unmotiviertes am Gruppentischplatznehmen, ins wanken oder sogar zum Einsturz bringt. Es bleibt für alle Betrachter extrem nebulös, mit welcher Tätigkeit, in welcher Position und in welcher Branche der Herr sein Lebensunterhalt verdient. Jeder der nur einen flüchtigen Blick auf Tisch geworfen hätte, hätte erkennen können, mit welcher Kategorie Mensch man es hier zu tun hat. Profi! In fast allen Bereichen, nur nix mit Menschen. Die technische Ausstattung, nicht billig und sehr trendy aber schnörkellos, stimmig auf die Bedürfnisse des modernen mobilen Business zugeschnitten. Persönliche Features? Fehlanzeige! Dementsprechend auch die Aufmachung des Herren. Ein Anzug aus der Vorjahreskollektion irgendeiner Kaufhauskette in unigrau mit hellblauem Hemd und natofarbender Krawatte. Der ungepflegte eineinhalb Tagebart macht bei jeder Bewegung seines Doppelkinns, schabende Geräusche am hochgeschlossenen Hemdkragen! Wenn am Folgetag eine Befragung stattfinden würde, wäre das Markanteste was die Fahrkartenkontrollöse über den Mann würde sagen können, dass es das komplette Fehlen der ihm umgebenden Gerüche gewesen sei. Ein zweifelhaftes Kompliment!
Am hinteren Ende des Abteils, in gehörigem Abstand zu allem anderen, marodiert eine Kleinfamilie. Vater, Mutti und die lieben Kleinen. Der Vater gibt vor zu schlafen und sondert für die unmittelbare Umgebung auch, quasi als Beweis, unrhythmische Schnarcher in unterschiedlichen Lautstärken ab. Mutti versucht das Chaos, was zwei Kinder unter zehn auf einer langen Bahnreise anrichten können, zu begrenzen. Entsprechend vorbereitet hat sie alles nur erdenkliche griffbereit in der obligatorischen Plastiktüte vom Discounter. Süß riechende, absurd bunte Flüssigkeit in zwei Zweiliter-Kanistern mit Nuckel-Saugverschluss, überlebensgroße Softgummimonster mit Schokoüberzug und Fertigsandwitch aus der Kühltruhe der Bahnhofsversorgung. Auf dem Schoß der Sprösslinge die jeweils neueste Generation der üblichen Spielkonsolen. Auf dem Schoß der Mutti, zewa Wisch & Weg und alle Ladekabel dieser Welt sowie die dazugehörigen Adapter und Powerbanks. Wenn mal zufällig fünf Minuten keiner von den Kindern lautstark etwas will, fallen fast gleichzeitig der Mutti die Augen zu und der Schnarcher linst heimlich durch verkrampfte Lider auf die gespenstische Brut.




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